Als Letztes lief nur noch die Uhr. Gerade hatte der 77- jährige Hubert Brückl nach 90 Minuten das Ziel erreicht. Hinter ihm fuhr nur noch der Rettungswagen, der den Schluss des Feldes markierte. Die meisten Läufer hatten sich längst in die Werner-von-Linde-Halle zurückgezogen, um sich aufzuwärmen und an den Tassen mit heißem Tee zu nippen. Auch Denis Pyka schlenderte durch die Halle. Der Sieger des 18. InterFace-Silvesterlaufs im Olympiapark plauderte mit Kollegen. Er hatte 32:30 Minuten für die zehn Kilometer lange Strecke gebraucht und seither auf die anderen 2300 Teilnehmer gewartet. Er musste weiter warten. Erst zweieinhalb Stunden, nachdem er bei leichtem Schneetreiben vor Stefan Stahl und Radomir Soukop gewonnen hatte, riefen die Veranstalter ihn und die schnellste Frau, Gaby Pfandorfer (38:30 Minuten), zur Siegerehrung.
Der Ergebniscomputer hatte lange gebraucht, um alle Resultate zu verarbeiten. Nie zuvor waren so viele Menschen beim Silvesterlauf im Olympiapark gestartet. Dass der seit kurzem in München lebende Denis Pyka der Schnellste unter ihnen sein würde, hatte sich früh abgezeichnet. Nach sechs Kilometern bin ich angetreten, sagte Pyka, ich wollte die anderen mit hohem Tempo zermürben. Stefan Stahl sprach hinterher davon, dass Pyka mit diesem Antritt das Feld gesprengt habe. Da konnte keiner mitgehen ich auch nicht, sagte er. Die Spitzengruppe zerfiel, die Abstände zwischen den Läufern wuchsen schnell. Der von einer Grippe geschwächte Pyka spürte nach 7,5 Kilometern die Folgen seines Zwischenspurts deutlich, hielt aber seinen Vorsprung bis ins Ziel.
Das war mein erster Silvesterlauf in München, und ich hatte die Startnummer eins das verpflichtet, sagte Pyka. Frost, Wind und der teils vereiste, teils mit Rollsplit übersäte Weg machten ihm wenig zu schaffen. Auch die anderen Teilnehmer hatten sich darauf eingestellt. Viele wählten Mützen oder Stirnbänder, Fleece-Pullover oder winddichte Jacken als Schutz gegen die Kälte. Nur wenige rannten in T-Shirts und kurzen Hosen durch den Schnee. Wer regelmäßig auch im Winter trainiert, lässt sich von Bedingungen wie beim Münchner Silvesterlauf nicht abschrecken, obwohl sie auch den Erfahrenen zuweilen Probleme bereiten. Als es angefangen hat zu schneien, war es ziemlich glitschig, sagte Stahl.
Sportliche Spitzenleistungen spielen aber nur am Rande eine Rolle. Der Münchner Triathlon-Profi Faris al Sultan etwa sagt, dass er den Wettkampf jedes Jahr aus Spaß mache: Ich soll im Sommer Rennen gewinnen und fange deshalb sicher nicht im November an, speziell für den Silvesterlauf zu trainieren es ist einfach jedes Jahr Tradition und Spaß. Ähnlich sehen das viele andere Läufer, die in Familien, mit Kinderwagen oder Hunden die Strecke absolvieren. Zwar kämpfen einige Topathleten vorne um Preisgelder. Aber nicht nur wegen des Teilnehmerrekordes ist der Münchner Silversterlauf ein Volkslauf. Die Veranstalter träumten nach dem Rennen davon, eines Tages 10000 Menschen auf die Strecke schicken zu können.
Obwohl der Wettbewerb in Läuferkreisen beliebt ist, kann man damit nicht unbedingt rechnen. Der Winter schreckt manche Hobbysportler und viele Zuschauer ab. Neben Angehörigen säumten nur wenige Menschen die Strecke, die ihren Reiz aus der Atmosphäre der olympischen Stätten zieht. Das lockt die meisten mehr als eine gute Platzierung. Denis Pyka reichte die Siegerurkunde schnell an eine Begleiterin weiter und sagte lächelnd: Die brauche ich nicht mehr. Der 29-jährige Marktforscher hat ganz andere Ziele für das Jahr 2002.
Die Europameisterschaft ist nicht mehr drin, weil ich keine Lobby habe, glaubt er. Zudem könne er nur neben seinem Beruf laufen, während die anderen deutschen Top-Athleten praktisch Profis seien. Der aus Trier stammende Pyka trainiert derzeit auf den verschneiten Wegen entlang der Isar. Den Erfolg beim Silvesterlauf hatte er erwartet. Nur mit dem langen Warten auf die Siegerehrung hatte er nicht gerechnet. Weil die sich so verzögerte, musste er mit Pokal und Preisgeld im Rucksack zur U-Bahn-Station sprinten. Diesen Wettlauf verlor Pyka allerdings. Die U-Bahn war schon weg. Als er am Gleis ankam, ließ er sich deshalb erschöpft auf einer Bank nieder. Nur die Uhr lief immer weiter.
David Rose